„Befreier“ Russland, ein historischer Rückblick
Putin will am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Deutschland, seinem Land den Sieg über die Ukraine verkünden. Sollte sein Plan aufgehen, wird er den Sieg als Befreiung der Ukraine vom Faschismus deklarieren. Deshalb ist ihm das Datum des 9. Mai so wichtig.
Das fordert zu einer historischen Einordnung heraus:
Der Überfall auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann, wurde mit dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939 (sog. Hitler-Stalin Pakt) vorbereitet.
Dieser enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem beide Länder ihre Interessenssphären im Osten festlegten. Dementsprechend marschierte die Rote Armee mit 600.000 Soldaten nur zwei Wochen nach dem Einmarsch Deutschlands in den östlichen Teil Polens ein. In Brest Litowsk trafen deutsche und sowjetische Panzereinheiten zuerst zusammen. Es fand eine gemeinsame Siegesparade mit feierlichem Tausch der Hakenkreuz- gegen die Rote Fahne statt.
In der Folge wurden 22.000 polnische Offiziere und Polizisten im Wald von Katyn von den Sowjets ermordet. Deren Familien wurden nach Kasachstan deportiert.
Im November 1939 kam Finnland an die Reihe. Allerdings leistete das Land wie jetzt die Ukrainer einen unerwartet heftigen Widerstand und wehrte den Angriff der Sowjetunion erfolgreich ab.
Im Frühjahr 1940 fiel die Rote Armee ins Baltikum ein und setzte der Selbständigkeit der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland ein Ende. Sie wurden als Unionsrepubliken in die Sowjetunion annektiert. Es folgten Massen-Liquidationen und Deportationen nach Sibirien.
Der Nichtangriffspakt der beiden Aggressoren hielt knapp zwei Jahre bis zum Angriff Deutschlands gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Nach dem Krieg wurde die Sowjetunion reich belohnt. Sie behielt mit Billigung der Westmächte das Baltikum und das östliche Polen. Ferner erhielt sie das nördliche Ostpreußen, aus dem die deutsche Bevölkerung vertrieben wurde. Die anderen osteuropäischen Staaten wurden als kommunistische Satellitenstaaten der Herrschaft Moskaus unterworfen.
Eine Folge dieser völkerrechtswidrigen Grenzverschiebungen und Vertreibungen ist unter anderem, dass Russland nunmehr nach dem Wiedererstehen der baltischen Staaten mit der Region Kaliningrad (früher Königberg) über eine politisch und strategisch unerwünschte Exklave inmitten des EU- und Natogebiets verfügt.
Die erste Duftmarke, wie die Befreiung vom Faschismus durch die Sowjetunion aussah, setzte die Rote Armee im Oktober 1944, als sie erstmals deutsches Reichsgebiet betrat und den Ort Nemmersdorf in Ostpreußen besetzte. Hier wurde neben Vergewaltigungen ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt.
Die Grausamkeit der russischen Armee, mit der wir uns jetzt in der Ukraine konfrontiert sehen, hat eine lange Tradition.
Warum dieser Rückblick?
Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Bedeutung für den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ist der historischen Amnesie verfallen. Dadurch wird der Blick auf die Mitverantwortung Russlands, das sich allein als Opfer des deutschen Angriffs sehen möchte, verschleiert.
Russland ist als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgetreten und Sieger setzen sich bekanntlich nicht mit ihren Verbrechen auseinander. Eine Vergangenheitsbewältigung ähnlich der unsrigen hat es in Russland nie gegeben. Stalin ließ Millionen Menschen hinrichten oder in Arbeitslager verschleppen. Dennoch wird er zunehmend verehrt. Über die Hälfte der Russen steht Stalin positiv gegenüber. Das muss man wissen.
Wer Realitäten ausblendet, unterliegt einer Selbsttäuschung und begeht Fehler. Wann, wenn nicht jetzt bewahrheitet sich diese These. Gleichwohl gibt es keine Alternative zu einem Interessenausgleich mit Russland, ohne den es keinen dauerhaften Frieden in Europa geben wird. Auch das ist eine Realität.